Die Banlieues, die sogenannten französischen Vorstädte, entstanden ab den 1950-er Jahren aufgrund einer massiven Wohnungsnot als Hochhaussiedlungen in den großen Städten. Sie sind seit jeher der Wohnort jener Bewohner, die in den Städten selbst keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Schätzungen zufolge leben in den Banlieues heute etwa fünf Millionen Menschen. Neben einer schlechten Anbindung an die Innenstädte und desolaten Wohnverhältnissen ist auch die Arbeitslosigkeit in den Vierteln doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Auch das Bildungsniveau liegt deutlich unter dem Durchschnitt. Schnell entwickelten sich die Banlieues zu Orten des sozialen Abstiegs mit überdurchschnittlich vielen arabischen und afrikanischen Migranten – heute leben fast ausschließlich Einwandererfamilien in den Sozialwohnungen. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Radikalisierung und verwahrloste Straßenzüge haben zur Stagmatisierung dieser Orte und zur Entstehung von Parallelgesellschaften beigetragen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt heute teilweise mehr als 50 Prozent. Wer von den Jugendlichen nicht auf die kriminelle Bahn gerät, sucht oft Halt und Zuflucht in der Religion ihrer eingewanderten Väter. In den Moscheen oder Kirchen werden die jungen Menschen aufgrund ihrer Herkunft aus den Banlieues nicht diskriminiert – anders als bei der Job- und Wohnungssuche. Jugendlichen der Vorstädte fühlen sich von der Politik im Stich gelassen – sie sind oftmals mit Rassismus, sozialer Ausgrenzung, Polizeigewalt und Perspektivlosigkeit konfrontiert. Aus alldem entsteht ein Pulverfass, das jederzeit explodieren kann.
Le Banlieue - die Wut in Frankreichs Vorstädten
Die französischen Banlieues, einst gebaut, um die Wohnungsnot zu lindern, sind heute soziale Brennpunkte. Hohe Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und zunehmende Gewaltbereitschaft führen immer wieder zu schweren Unruhen. Wie lange hält Frankreich diesen Druck noch aus?
Die Aufstände der Jugendlichen im Herbst 2005
Alles beginnt als sich zwei Jugendliche aus dem Vorort Clichy beim Nachhauseweg von der Polizei verfolgt fühlen. Da sie keine Papiere bei sich haben, sollen sie einer drohenden Polizeikontrolle entgehen und verstecken sich in einem Umspannwerk – dort sterben die beiden unglücklicherweise an einem Stromschlag. Die Nachricht vom Tod der beiden Burschen verbreitet sich wie ein Lauffeuer, die Polizei avanciert zum Feindbild der sozial benachteiligten Jugendlichen. Bereits am selben Abend kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen – Autos und Geschäfte werden in Brand gesetzt, die Polizei mit Gewalt konfrontiert. Als zwei Tage später eine Tränengasbombe der Polizei in der Moschee von Clichy explodiert, kommt es zum Flächenbrand in sämtlichen Vorstädten Frankreichs. Schulen und Kindergärten werden zerstört, Autos und Busse brennen, Polizisten und Feuerwehrleute werden attackiert – die Wut richtet sich gegen den Staat, der die Menschen in den Banlieues in ihren Augen aufgegeben hat. Die Ausschreitungen sind so heftig, dass die französische Regierung am 7. November 2005 den Ausnahmezustand erklärt und Ausgangssperren verhängt. Erst nach drei Wochen kann die Situation normalisiert werden – zehntausend Autos wurden angezündet, vier Menschen sterben, es gibt hunderte Verletzte und fünfhundert verwüstete öffentliche Gebäude. Der damalige Präsident Jacques Chirac stellt als Konsequenz einen „Marshall-Plan“ für die Banlieue in Aussicht - viele Milliarden werden in Folge in die Sanierung der Problemgebiete und schulischen, sozialen und kulturellen Versorgung, Kriminalitätsbekämpfung investiert. Mit nur wenig positiven Auswirkungen - seit 2005 gab es zahlreiche weitere Ausschreitungen in Frankreich. Im Jahr 2023 eskalierte die Situation wieder in einem erschreckenden Ausmaß.
Der Tod des 17-jährigen Nahels durch einen Polizeischuss im Juni 2023
Der junge Mann algerischer Abstammung wird am 27. Juni in Nanterre, dem westlichen Vorort von Paris, von einem Polizisten erschossen, als er sich einer Verkehrskontrolle entziehen will. Das von einer Zeugin aufgenommen Video von der Tötung des Jugendlichen wird fast zeitgleich auf sozialen Medien verbreitet. Es kommt darauf zu gewaltsamen Ausschreitungen, Demonstranten errichten Straßensperren und liefern sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. In den nächsten Tagen weitet sich die gegen die Polizei gerichtete Gewalt auf mehre französische Städte aus – es kommt zu Gewalt, Bränden, Plünderungen und Beschuss mit Feuerwerkskörpern, Großveranstaltungen werden abgesagt. Rechtsextreme Militante marschierten als „Bürgerwehr“ in die Vororte, Aktivisten der verbotenen Organisation „Alvarium“ greifen Protestierende mit Schlagstöcken und Stichwaffen an. Die Gewalteskalation dauert bis 3. Juli – wieder werden tausende Fahrzeuge und Gebäude in Brand gesteckt, 700 Beamte verletzt, tausend Geschäfte durch Vandalenakte zerstört und geplündert. Die Höhe des Schadens beläuft sich auf Euro 650 Millionen. Das Durchschnittsalter der Festgenommenen liegt bei 17 Jahren, viele davon waren schon tief im kriminellen Milieu verwurzelt und sind der Meinung, nur Gewalt ändere etwas an ihren prekären Verhältnissen.
Wie sieht die Zukunft Frankreichs aus?
Massenkrawalle in Frankreich sind nichts Neues, jedoch die Schlagzahl und Intensität nimmt in den letzten Jahren stetig zu. Es braucht kaum noch einen Anlass und schon gehen Tausende, oft Gewaltbereite, auf die Straßen und setzen ganze Straßenviertel in Brand. Die Kluft zwischen der traditionellen Gesellschaft und den im Land lebenden Migranten wächst durch die immer mehr wachsenden politischen Gegensätze in den westlichen Demokratien. Auf der einen Seite die Linke mit ihrer weltoffenen Einwanderungspolitik, auf der anderen die Rechte mit ihrer unverzichtbaren Bedeutung von Tradition und Nationalstaat. Die Polarisierung in der Bevölkerung Frankreichs nimmt weiter zu. Dass die bei den Wahlen 2024 stimmenstärkste Partei Rassemblement National immer mehr Wähler für sich gewinnen kann, ist Ausdruck einer gescheiterten Integrationspolitik. Die Situation in den Vororten Frankreichs hat sich trotz Bemühungen und Investitionen weiter verschlechtert – Macron hat mehrmals zugegeben, dass ein durchschlagender Erfolg bei der Integration nicht gelungen ist. Die Perspektivlosigkeit in der Bevölkerung der Banlieues wird immer mehr sichtbar, es braucht nur den geringsten Anlass für den Beginn eines neuerlichen Konflikts auf der Straße. Das nächste Mal könnte es aufgrund der Spaltung der französischen Bevölkerung jedoch nicht bei einem Konflikt bleiben - selbst Makron hat vor der letzten Wahl im Juni 2024 vor einer Eskalation und der möglichen Folge eines Bürgerkriegs gewarnt.